Gespräch mit Berta von Breitschwerdt

Berta von Breitschwerdt ist Kunstautorin der spanisch-dänischen Kunstreihe Journal del Arte. Sie führte das Gespräch mit Nils Snejk am 2. März 2021 in Gerona, anlässlich der Juan Gris Tage, die unter dem Leitbild des synthetischen Kubismus standen. Eine Erkenntnis: Nirgends sonst gibt es so viele Freiheiten wie in der Bildenden Kunst. Wer vorhat, mit den Regeln zu brechen ist dort richtig. Er wird sogar dafür belohnt. Denn nichts ist langweiliger, als nach Regeln und wiederkehrender Methodik zu malen.

Sie sind Newcomer und Quereinsteiger in der Kunstszene, obendrein erfolgreich. Können Sie uns Ihren Weg in die Malerei skizzieren?

Es gab keinen nachvollziehbaren Weg, keine Schrittfolge, keinen Prozess. Einen Anlass schon, aber eher spontan. Stellen Sie sich eine Wand vor, hinter der sich eine unbekannte  Welt verbirgt. Eines Tages beschloss ich, diese andere Welt zu besuchen, durch diese Wand zu treten. Für mich ein Abenteuer, eine Expedition in die Welt der Kunst, ein Entschluss, etwas Neues zu entdecken.

​Wie lange ist das her, und was haben Sie entdeckt?

Das ist jetzt wohl einige Jahre her. Der Eindruck ist, dass die Kunstwelt sehr kompliziert und wenig durchschaubar ist. Mühsam, Regeln zu finden und ziemlich schwer, Orientierung zu gewinnen. Ein Wald mit vielen Wegen und Kreuzungen. Aber auch ein Wald mit unerwartet interessanten Erlebnissen.

Das klingt sehr allgemein. Sind Sie nun zum Künstler geworden?

Ich glaube, ein echter Künstler kennt keine Rückfahrkarte. Er taucht in diese Welt ein und bleibt fortan darin gefangen. Ich trage meine Rückfahrkarte immer noch in meiner Hosentasche. Ich denke, ich werde sie nicht wegwerfen.

Sie sind also von der Kunst nicht überzeugt?

Doch, von der Kunst schon, von meinem Verbleib als Künstler weniger. Mich interessiert die Kunst, nicht so sehr das Künstler-Sein.

Aber Sie malen, machen Skulpturen, Siebdruck und Grafiken, ist das nicht Ausdruck des Künstler-Seins?

Man kann es durchaus so sehen. Aber der Schwerpunkt meines Interesses liegt in der Kunst ganz allgemein und dort insbesondere in der Frage, was ist Kunst überhaupt?  Wie geht das? Wo fängt Kunst an und wo hört sie auf? Man kann Kunst machen oder über sie sinnieren, nachdenken, versuchen, sie zu begreifen. Das letztere liegt mir glaube ich mehr

Das würde bedeuten, Sie malen, um die Kunst zu verstehen, nicht um Kunst zu schaffen.

Ja, das wäre wohl eine gute Zusammenfassung. Gleichwohl schafft es Genugtuung auch, wenn bei meinen Versuchen etwas entsteht, das mir und anderen Freude bereitet. Nur abhängig vom Zustandekommen neuer Bilder will ich nicht sein. Ich glaube, ich würde gerne der ewige Studiosus sein wollen.

Muss man für den Weg in die Kunst Talent haben?

Wenn man etwas erlernen will, sollte ein Quäntchen Talent immer dabei sein. Es erleichtert einem den Zugang zu finden, ersetzt aber nicht den Fleiß, den man aufbringen muss, um mehr oder weniger erfolgreich zu sein, egal ob du schaffender Künstler oder Kunstanalytiker werden willst.

Wo haben Sie Ihre Kunstausbildung gemacht?

Zuerst war ich knapp drei Jahre an der Freien Kunstakademie in Überlingen. Dort habe ich ein Grundstudium absolviert. Danach wechselte ich zur Akademie der Bildenden Künste an der Alten Spinnerei Kolbermoor, einer Kunstschule, an der u.a. Prof. Markus Lüpertz lehrt. Ich konnte mich nach weiteren zwei2 Jahren in seine Meiserklasse einschreiben. Ein großer Zugewinn!​

Finden Sie in Prof. Lüpertz den Meister, der Ihnen hilft, Kunst zu verstehen und zu machen?

Ja, in der Tat ist Prof. Lüpertz nicht nur ein guter Lehrer in Sachen bildnerisches Gestalten, sondern auch ein hervorragender Vermittler der Kunsttheorie und Kunstanalytik. Seine Aussagen sind immer höchst spannend und aufschlussreich, auch wenn man sie nicht immer gleich versteht. Er redet weit über das eigentlich zu betrachtende Bild hinaus und referiert über  Zusammenhänge, die sich einem erst peu à peu erschließen.

Zurück zu Ihrer eigenen Malerei. Sind Sie mehr ein „abstrakter“ oder „gegenständlicher“ Maler?

Beides ist der Fall. Ich wähle häufig ein gegenständliches Motiv und versuche es danach zu abstrahieren. Was übrig bleibt, hängt davon ab, wann ich mit einem Bild aufhöre. Je kürzer der Malvorgang, desto gegenständlicher verbleibt die Form. Je länger ich daran arbeite, desto abstrakter wird das Bild.

​Wie entstehen Ihre Bilder? Haben Sie einen Plan oder gehen Sie ganz frei an die weiße Leinwand heran?

Ich unterscheide sehr zwischen Untermalung und Bildauftrag. Dabei bin ich kein Mensch, der wild drauf losarbeitet. Während die Untermalung recht frei ist, brauche ich beim eigentlichen Bild einen Plan, und der muss beherrschbar sein. Ich brauche ein Ziel, das die Richtung vorgibt. Ich entspreche da wohl eher dem Vorgehen eines Architekten oder Ingenieurs, der seine Entwürfe macht, meist aus einer funktionalen Vorgabe, einem Anspruch. Meine Arbeitsweise entspricht wohl eher dem.

​​Sind Ihre Bilder also mehr Planung als Zufall?

Eine wesentliche Erkenntnis aus dem Kunststudium ist, dass jeder Künstler immer Entscheidungen zu treffen hat, z.B. Farbe, Format, Medium etc. . Ich nun muss das Gefühl haben, Entscheidungen planvoll zu treffen, beherrscht zu sein von einem Ziel, den Weg zu kennen und nicht umgekehrt beherrscht zu werden vom Zufall und vom möglichen Malheure, keine Idee mehr zu haben, keine Richtung mehr zu kennen. Ich fühle mich besser, wenn ich weiß, wo ich bin, wo ich stehe, wo ich hin muss, was als nächstes kommt. Es lindert die mögliche Verzweiflung.

​​Können Sie Ihre planvoll gemalten Bilder für das Publikum kurz beschreiben?

Es ist naheliegend: Meine Kunst entstammt der Konstruktion, einem technischen Leitbild. Bilder sind nicht nur gemalt, sondern konstruiert. Sie entstehen nicht zufällig, durchlaufen einen Planungsprozess, folgen einem Algorithmus. Nährboden bildet der Kreativraum der Grafik, des Konstruktivismus und der konkrete Kunst. Meine Bilder besitzen ein geometrisches Formenvokabular. Dabei bleibt das Gegenständliche immer Ausgangspunkt, die Zeichnung, meist ein Akt. Erst schrittweise entkoppelt sich die Linie und wird zur Form, die Form wird zur Fläche und die Fläche füllt sich mit Farbe.​

Sind Ihre Bilder dann nicht zu methodisch und in sich gefangen? Kritisiert Lüpertz das nicht?

Ja, das könnte man so sehen. Und ja, Lüpertz mag Methode nicht. Dennoch, es ist meine Technik, meine Handschrift. Nachvollziehbarkeit, Wiederholbarkeit erlangen darin Bedeutung.  Im grafischen Sinne und Bildaufbau sind sie Maßstab. Methode als Verfahren kann in der Kunst zwar verdammt werden. Für mich ist sie Fahrplan, das Setzen meiner Parameter auf die Leinwand. Und das Spiel von Variationen der Methodik, ihres vielfältigen Einsatzes, das ist mein Experimentierfeld. Es ist ein methodisches Kaleidoskop.

Wie lange arbeiten Sie durchschnittlich an einem methodischen Bild?

Vielfach mehrere Wochen. Selten nur wenige Tage. Die Vorbereitung der Bildgestaltung, der Entwurf, die Bildplanung und wiederkehrende Korrekturen nehmen allerdings über 2/3 der Zeit in Anspruch. Das eigentliche Malen und Ausführen ist ein kürzerer Prozess.

​Wie zufrieden sind Sie mit Ihrem Werk, wenn es fertig ist?

Ich bin nie zufrieden, oder selten. Wobei sich die Frage stellt, nach welchen Kriterien sollte man urteilen? Was ist gut gelungen, was ist schlecht? Es  überrascht mich immer wieder, dass mein Urteil anders lautet, als das des Meisters und seiner Dozenten. Und das ist häufig wieder anders als das Urteil eines beliebigen Betrachters.

​​Also wonach sollte man ein Bild urteilen?  Wer sagt ob es gelungen ist oder nicht?

Im Endeffekt definiert allein der Bildschaffende seine Kunst. Allein er ist verantwortlich für sein Werk. Sein Werk beinhaltet ihn, sein Denken, seine Ethik, seine Sicht, seine Wahrnehmung, sein Urteil. Gute Kunst definiert sich aus dem Erreichen und dem Genügen des eigenen Anspruchs. Wenn ich selbst zufrieden bin, ist meine Kunst gut, per Definition.

Da Sie selbst eher selten zufrieden bist, ist also Ihre Kunst nur selten gut?

Naja, so müsste man es wohl sagen, wenn man ehrlich ist. Wobei …  in einer anderen Sichtweise ist Kunst auch gut, wenn es Käufer gibt, denn sie kaufen nur dann, wenn sie ihrerseits ihren Anspruch an gute Kunst erfüllt sehen. Wenn ihr Anspruch nicht erfüllt wäre, würden sie kein Geld dafür ausgeben.

Wie würden Sie ein gutes Bild beschreiben? Was müsste es haben?

Also, das wirklich gute Bild ist wie ein Perpetuum Mobile. Es pulsiert unendlich. Seine Kraft geht nie aus. Es lebt Generationen lang. Ein schlechtes Bild ist nach kürzester Zeit tot, ausgepumpt, es pulsiert nicht mehr. Seine Batterien sind leer. Der Betrachter langweilt sich beim vierten Anblick und hängt es ab. Und dazwischen gibt es also alle Arten von Zuständen zwischen Exzellent und Grausam.

Der Kraftbegriff ist interessant. Ist Kunst Kraft, aus der Sie schöpfen?

Alles ist Kunst, wenn es kraftvoll ist. Das hat Beuys schon postuliert.  … aber als Künstler daraus zu schöpfen, … nein, so würde ich das nicht sagen. Bevor Kunst zur Kraftquelle für den Betrachter wird, muss der Künstler erstmal viel Energie und Konzentration investieren, um diese Quelle zu schaffen. Das ist mühsam und anstrengend, manchmal qualvoll. Je mehr aber in ein Bild investiert wird, desto aufgeladener kann es werden und desto länger kann es Energie abgeben. Dann zehre ich auch davon, natürlich.

Was treibt Sie an, um diese Strapazen auf sich zu nehmen?

Gute Frage. Im Schaffensprozess sind wohl Freiheiten gegeben, die man andernorts  kaum mehr erleben kann. Zu dicht sind zwischenzeitlich andernorts all die Zwänge. Nicht so in der Kunst. Sie erlaubt Fluchten in alle Richtungen. Das ist reizvoll. Und obwohl Kunst nach Regeln sucht, belohnt sie den, der sie bricht. Das kann einen schon verrückt machen, aber auch entzücken. Kunst schafft ungemeine Freiräume. Kunst ist ein Medium, das alles verzeiht und deren Hochachtung steigt, je mehr Regeln missachtet werden. Wo bitteschön gibt es denn sowas sonst noch?

Regelbruch, das klingt wie Anarchie?

Könnte man meinen, ist es aber nicht!

Was bedeutet Kunst also dann für Sie, wenn nicht Anarchie?

Kunst bedeutet für mich die Tür aufzumachen und in einen neuen Raum zu gehen. Darin verhält sich alles anders, andere Regeln, andere Leute, anderes Licht, andere Normen, andere Vielfältigkeit. Kein anderer Raum bietet mir so viele Freiheiten wie die Kunst. Künstler zu sein bedeutet, diesen Raum nie mehr zu verlassen. Kunst wird zum Dauerzustand der Freibeuterei, eine Art Emigration in den freien Raum.

Können Sie diesen Raum näher beschreiben?

Die Kunst besteht aus vielen Räumen, in vielen Häusern und in vielen Ländern, auf vielen Planeten. Der Kunstraum ragt ins Unendliche und es wird jeden Tag dazu gebaut. Er expandiert mit jedem neuen Künstler. Jeder neue Künstler erschafft sich einen neuen Raum. Er bewohnt ihn, gibt ihm seine eigene Gesetzmäßigkeit. Jeder Künstler ist einzigartig und nicht zu tadeln für das, was er in diesem Raum macht. Allein sein Gestaltungswille definiert den Raum.

Denkst Sie einen Malstil gefunden zu haben, an dem man Ihren Kunstraum erkennen kann?

Das ist glaube ich, für mich gesprochen zu früh. Ein Dozent meinte einmal, dass es mindestens 5 Jahre braucht, bis man seinen eigenen Stil nachhaltig gefunden hat, wobei das bei mir nicht reichen dürfte bei meiner derzeitigen Hang zum Experiment und der Neigung zur dauerhaften Infragestellung.

Womit und wie experimentieren Sie?

Ich arbeite gerne an der Schnittstelle zwischen Malerei und Grafik. Meine Kunst beginnt immer mit einer oder mehreren, meist aus Aktzeichnungen entstandenen gemalten oder gezeichneten Figuren. Sie bilden meinen Ausgangspunkt für Untermalung und Bildfindung, meist in klassischer Technik mit Acryl, Tempera oder Gouache, kontrastreich, farbig und realistisch figurativ. Erst wenn das figurative Bild auf Leinwand eigentlich schon fertig scheint, beginne ich es zu abstrahieren, in meiner Art zu zerstören  und mit grafischen Elementen neu aufzubauen.

​ Dann arbeiten Sie also von der Figuration ins Abstrakte hinein?

Ja, in gewisser Weise. Aus dem anfänglichen figurativen Bild wird dann ein mehrschichtiges, geometrisch anmutendes Muster, ein Art Kaleidoskop. Aus dem Malen  wird ein Konstruktionsvorgang. Aus der Räumlichkeit entsteht Flachheit, aus Übergängen entstehen Brüche, aus Kontinuum entstehen Stufen, aus Geschmeidigkeit entsteht Härte, der Pinsel weicht dem Spachtel. Aus Tönungen entstehen Flächen, aus Kontrasten entstehen Formen, aus Rundungen werden Geraden. Aus dem Bild entsteht eine gemalte Grafik.

Wie sehen Sie Ihre aktuelle Tätigkeit als Künstler? Malen Sie jeden Tag im Atelier oder nur sporadisch?

Das hängt sehr von der Laune ab. Manchmal male ich tagelang hintereinander, manchmal habe ich Ruhephasen von mehreren Wochen, manchmal sogar Monate. Aber mehr als 4 Stunden am Tag schaffe ich eh nicht. Dann bin ich ziemlich kaputt.

Wie wichtig ist Ihnen der Austausch mit anderen Künstlern?

Das ist ein sehr schwieriger Aspekt in der Kunst. Es gibt Leute, die können einem sehr viel sagen, vorausgesetzt, man spricht die gleiche  Sprache. Die sind wertvoll. Das sind aber auch nur wenige. Die wenigen sind dafür hervorragende Kritiker. Das kann einen weiterbringen. Es gibt andere Leute, die außer Plattitüden keine ernstzunehmenden Kommentare hervorbringen. Sie sind in der Überzahl.

​ Könnte eine Künstlergruppe den gleichen Effekt erreichen?

Vielleicht, ja, dann aber nur in einer geografischen Nähe, wo man sich regelmäßig treffen kann. Über eine größere Distanz, glaube ich, funktioniert das nicht. Die Abstände sind zu groß, das Verständnis zu gering.

​ Sie verwenden ein Pseudonym, einen Künstlernamen, warum?

Pseudonyme sind in der Kreativwirtschaft sehr häufig. Sänger, Schauspieler, Literaten, DJs und eben auch Künstler nutzen Kunstnamen aus unterschiedlichen Gründen. Ich führe einen Künstlernamen weil mein bürgerlicher Name mit etwas völlig anderem, einer früheren Tätigkeit verbunden ist und dadurch belegt und vergeben ist.  Ich brauchte einen freien Namen, den ich neu ausfüllen kann und der zu mir als Künstler führt und nicht zu meiner früheren Tätigkeit.

Haben Sie einen „Schlüssel“ für die Festlegung Ihrer Bilderpreise? Gibt es Kriterien, nach denen Sie den Preis bestimmen?

Vor langer Zeit habe ich einem guten Freund ein Bild geschenkt, der mich fragte, was das wert sei. Ich antwortete mit einer Zahl im Tausenderbereich. Das war natürlich völlig unsinnig. Als ich ihn später wiedertraf, habe ich ihm die Wahrheit gesagt. Daraufhin hat er es abgehängt. Preise richten sich seither bei mir nach der Erwartungshaltung.

​ Gibt es Ausstellungen der letzten Jahre, die Sie beeindruckt oder gar beeinflusst haben?

Ja, tatsächlich. Spontan fällt mir die Ausstellung „The Art of Banksy“ in Berlin ein. Eine andere war “The World goes POP” in der Modern Tate London. Auch Andy Warhol im MAC in Singen war echt ein Hingucker. Aber auch die Sammlung Domberger, gezeigt von der Galerie Stihl, war faszinierend. Für mich bleibende Eindrücke von erstklassigem Kunstdruck.

​Was würden Sie jemanden sagen, der wissen will, wann etwas als Kunst gilt und wann nicht?

Zuallererst hat Kunst nichts zu tun mit Gefälligkeit. Kunst dient nicht der Dekoration. Jeder Gegenstand, jedes Handeln, jeder Mensch, jedes Artefakt wird zum Exponat der Kunst, wenn man ihnen den Kunstraum zuschreibt, in denen sie agieren, entstehen oder wahrgenommen werden. Im Kunstraum ist alles Kunst. Tritt man aber aus dem Kunstraum heraus und bringt man dieselben Exponate in den Alltag zurück, verblassen die meisten und viele sind als Kunst nicht mehr erkannt oder verstanden, manche sogar verschrien.

 Verstehe ich das richtig? ​Kunst definiert sich in der Wahrnehmung anders durch räumliche und zeitliche Unterschiede?

In gewisser Weise, ja. Kunst kann sich in der Wahrnehmung wandeln. Dasselbe Stück wird in der einen Welt verstanden, in der anderen Welt eben nicht. Ich erkenne Kunst auch nur dann, wenn ich ihre Sprache spreche, wenn ich ihr begegne. Das setzt voraus, dass ich ihren Zustand kenne. Wenn das nicht der Fall ist, geht Kunst verloren, weil ich sie nicht mehr erkennen kann.

Man würde also über Zustände der Kunst reden müssen?

​Kunst schärft die Sinne. Sie erzeugt Wahrhaftigkeit. Bei der Auseinandersetzung, dem Entstehen eines Werkes, beim Suchen nach dem wahren Motiv, nach dem Stil, der Technik, der Selbstverwirklichung fließen Zeitgeist,  Zeitgeschehen und aktuelle Ereignisse in die Gedanken und damit in seine Kunst ein. Sie ist wie ein Schwamm, ein Zeitzeuge, ein Gedächtnis, eine Kamera, ein Tonband, ein Speichermedium der Zeit. Kunst birgt einen Zustand, den man dechiffrieren kann. Es erschließt sich deshalb die Kunst immer nur im Zusammenhang mit dem Zeitabschnitt, den ein Künstler repräsentiert, worin er gelebt hat. Seine Kunst ist ein Satz von Chiffren, unersetzliche Hieroglyphen der Zeit und auch des Raumes.

Welche sind die wichtigsten Erkenntnisse aus dem Studium bei Markus Lüpertz?

Davon gibt es viele. Ich bewundere seine Sichtweise und Analysefähigkeit. Er gibt der Kunst die Regeln, die eigentlich keine kennt. Und das wollen wir alle verstehen. Er versteht sie.